Von Laurenz Leky. Veröffentlicht am 24 Januar 2013

Ger­hardt Haag (63) ist Schau­spie­ler und seit 1995 Lei­ter des Thea­ters im Bau­turm in Köln. Seit 2010 arbei­tet das Thea­ter im Bau­turm mit Thea­ter­schaf­fen­den aus Bur­kina Faso zusam­men. Zusam­men mit Eti­enne Minoun­gou, dem Chef des renom­mier­ten Thea­ter­fes­ti­vals Récréâ­tra­les in Bur­kina Fasos Haupt­stadt Oua­g­adou­gou hat Haag 2011 ein Fes­ti­val für moder­nes afri­ka­ni­sches Thea­ter in Köln, das afri­co­lo­gne­FES­TI­VAL, aus der Taufe geho­ben. Eine Kopro­duk­tion von Haags Thea­ter im Bau­turm und Minoun­gous Theatre Falinga hatte im Novem­ber in Oua­g­adou­gou Pre­mière und wird in der zwei­ten Aus­gabe vom afri­co­lo­gne­FES­TI­VAL vom 18. bis 27. Juni in Köln zu sehen sein.

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2010 legte Chris­toph Schlin­gen­sief den Grund­stein zu sei­nem Opern­dorf in Bur­kina Faso, 2011 stellte das Thea­ter Kon­stanz seine Spiel­zeit unter das Motto „Afrika“ und 2012 rich­tete die Kul­tur­stif­tung des Bun­des einen Fonds für Aus­tausch und Koope­ra­tion zwi­schen afri­ka­ni­schen und deut­schen Künst­lern ein (Afri­ka­Echo berichtete).

Der Schau­spie­ler und Thea­ter­lei­ter Ger­hardt Haag arbei­tet bereits seit 1995 mit afri­ka­ni­schen Künst­lern in Afrika und Europa. Zudem gelang ihm 2011, auf dem Höhe­punkt der Finanz­krise, das Kunst­stück, das afri­co­lo­gne­FES­TI­VAL für zeit­ge­nös­si­sches afri­ka­ni­sches Thea­ter in Köln zu gründen.

Höchste Zeit, den Mann auf einen Kaf­fee zu treffen!

Bereits Haags erste Arbeit auf dem afri­ka­ni­schen Kon­ti­nent trägt den Titel Hanin/Sehnsucht:

„Seit ich mich erin­nern kann, wollte ich weg. Ich hatte immer Sehn­sucht nach etwas ande­rem, als dem, was ist“.

Fol­ge­rich­tig behan­delt das Stück, das Haag gemein­sam mit marok­ka­ni­schen und deut­schen Jugend­li­chen und jun­gen Erwach­se­nen erar­bei­tete, kei­nes­wegs nur die Sehn­sucht der Marok­ka­ner nach einem Leben unter bes­se­ren wirt­schaft­li­chen Bedin­gun­gen, son­dern auch die der deut­schen Seite nach einer ande­ren Art zu leben und Bezie­hun­gen zu gestalten.

Wer sich heute ein Video der Insze­nie­rung anschaut, erlebt eine rea­li­täts­nahe und häu­fig sehr humor­volle Gegen­über­stel­lung marok­ka­ni­schen und deut­schen All­tags, die ohne gän­gige Afrika– und Ori­ent­kli­schees aus­kommt und dabei Mitte der 90er Jahre bereits The­men behan­delt, die erst Jahre spä­ter die breite deut­sche Öffent­lich­keit errei­chen, wie z.B. die lebens­ge­fähr­li­che Flucht von Afri­ka­nern über das Mittelmeer.

Bur­kina Faso und Tho­mas San­kara als Inspiration

1998 dann reist Haag zum ers­ten Mal nach Bur­kina Faso. Aus­schlag­ge­bend ist die poli­ti­sche Ent­wick­lung des Sahel­staats. 1983 hatte sich Tho­mas San­kara, Haupt­mann der Luft­waffe und bis dahin v.a. als Gitar­rist der Band Tout-a-Coup Jazz bekannt, mit einem Putsch an die Spitze des Staa­tes gesetzt. Bevor San­kara 1987 von sei­nem Freund und Weg­ge­fähr­ten, dem heu­ti­gen Prä­si­den­ten Blaise Com­pa­oré, ermor­det wurde, hatte er sich an eine radi­kale sozia­lis­ti­sche Reform des Lan­des gemacht.

Neben Ver­bes­se­rung von Gesund­heits­ver­sor­gung und Bil­dung sowie umfas­sen­den Wie­der­auf­fors­tungs­pro­gram­men gegen die zuneh­mende Aus­brei­tung der Wüste, waren es v.a. seine Initia­ti­ven für die Gleich­stel­lung der Frau und gegen Kor­rup­tion und fremde Ein­fluss­nahme, die über die Lan­des­gren­zen hin­aus von sich reden machten.
Lite­ra­tur

Unter San­kara gehör­ten mehr Frauen zur Regie­rung als in irgend­ei­nem afri­ka­ni­schen Staat zuvor und seine Leib­wa­che bestand aus einer aus­schließ­lich weib­li­chen Motor­ra­des­korte. Seine Minis­ter durf­ten aus­schließ­lich Renault 5 als Dienst­wa­gen benutzen.

Er schaffte die alte kolo­niale Bezeich­nung Ober­volta ab und gab dem Land sei­nen heu­ti­gen Namen, der über­setzt soviel wie „Land der Auf­rich­ti­gen” heißt. Seine Ableh­nung von Ent­wick­lungs­hilfe und sein Auf­ruf an die Län­der Afri­kas zum gemein­sa­men Ver­wei­gern der Rück­zah­lung von Staats­schul­den begrün­de­ten die bis heute andau­ernde Strahl­kraft des cha­ris­ma­ti­schen, wenn­gleich nicht unum­strit­te­nen Sankara.

“Ent­wick­lungs­hilfe sofort stoppen”

Was Haag an San­kara fas­zi­niert, ist des­sen ent­schie­de­nes Bekennt­nis zu einem eige­nen Weg und die Ableh­nung jeg­li­cher Ein­fluss­nahme durch die Indus­trie­na­tio­nen: „So lange wir auch nur ein Reis­korn impor­tie­ren sind wir abhän­gig!“ zitiert Haag den Revo­lu­tio­när. „Das ist es! Den eige­nen Weg gehen! Auf die eigene Kraft sich ver­las­sen!“ ruft Haag und ver­wan­delt das Köl­ner Café im Bau­turm für einen Moment in die Place de la Revo­lu­tion in Ouagadougou.

Tat­säch­lich lernte Haag die Fami­lie San­kara per­sön­lich ken­nen. Heute ver­bin­det ihn nicht nur mit dem Bru­der des ehe­ma­li­gen Staats­chefs, son­dern auch mit des­sen ehe­ma­li­gen außen­po­li­ti­schen Bera­ter eine enge Freund­schaft. Als sich Letz­te­rer bei einem Unfall eine schwere Bein­ver­let­zung zuzog, orga­ni­sierte Haag eine Bene­fi­zope­ra­tion für ihn in Bergisch-Gladbach. Kurz vor sei­nem Tod nahm San­ka­ras Vater den deut­schen Thea­ter­mann als Sohn in die Fami­lie auf.

Als “adop­tier­ter” San­kara ver­wun­dert es wenig, dass Haag auch heute noch lei­den­schaft­lich das Thema Ent­wick­lung und aus­län­di­sche Ein­fluss­nahme in Afrika dis­ku­tiert: „Ent­wick­lungs­hilfe sofort stop­pen! Alle soge­nann­ten Hel­fer raus aus Afrika!“, for­dert Haag im Ein­klang mit ande­ren Kri­ti­kern in Afrika und Europa und ist über­zeugt, „den eige­nen Weg kann man nur fin­den wenn man sich nicht abhän­gig macht“.

Natür­lich nimmt er hier auch afri­ka­ni­sche Regie­run­gen in die Pflicht, die der Ver­su­chung des gro­ßen Gel­des nur allzu gern nach­ge­ben und sich so in selbst­ver­schul­dete Unmün­dig­keit bege­ben. Am meis­ten ärgert ihn, dass ein Viel­fa­ches der Gel­der, die Deutsch­land an soge­nann­ter Ent­wick­lungs­hilfe zahlt, an deut­sche Fir­men zurück­flie­ßen: das sei keine Hilfe, son­dern Eigenhilfe.

„Wenn Hilfe, dann wirk­lich nur das, was wir selbst­los geben kön­nen ohne etwas zu erwar­ten. Und nur an Initia­ti­ven aus der Zivil­ge­sell­schaft, nicht an Regierungen“.

Was Haag an der gegen­wär­ti­gen Ent­wick­lungs­zu­sam­men­ar­beit stört, beschreibt er an einem Bei­spiel aus Bur­kina Faso: nach­dem die Welt­bank und der Inter­na­tio­nale Wäh­rungs­fonds Druck auf den Ein­par­tei­en­staat aus­ge­übt und mit der Ein­stel­lung von finan­zi­el­ler Unter­stüt­zung gedroht hat­ten, lies Prä­si­dent Com­pa­oré meh­rere Par­teien als Pseu­doop­po­si­tion grün­den und die Gel­der flos­sen wieder.

Jeder muss selbst ent­schei­den, ob und wie er sich entwickelt

Einer blo­ßen „pro forma“ Ent­wick­lung, wie Haag sie in Bur­kina Faso und ande­ren Län­dern häu­fig beob­ach­tet, setzt er den Satz des gro­ßen bur­ki­ni­schen His­to­ri­kers Joseph Ki-Zerbo ent­ge­gen: „Ent­wick­lung heißt sich entwickeln.“

Der Satz, der auch die Über­schrift einer Dis­kus­si­ons­ver­an­stal­tung beim letz­ten afri­co­lo­gne­FES­TI­VAL bil­dete, ist ebenso ein­fach wie pro­vo­kant. Für Haag beinhal­tet er die in Bezug auf die Ent­wick­lungs­zu­sam­men­ar­beit gera­dezu revo­lu­tio­nä­ren Gedan­ken, dass man nie­man­den ent­wi­ckeln kann und dass die Vor­stel­lung von Ent­wick­lung als einer Ein­bahn­strasse von einem Geber zu einem Emp­fän­ger das Kon­zept von Ent­wick­lung im Kern ad absur­dum führt.

Umge­kehrt gibt der Thea­ter­lei­ter unver­blümt zu, wie er den Begriff Ent­wick­lung für sich per­sön­lich im Zusam­men­hang mit sei­ner Arbeit ver­steht: „Es ist ganz selbst­süch­tig. Ich will mich durch die Zusam­men­ar­beit mit Afrika ent­wi­ckeln. Ich will MICH entwickeln!“.

Ob und wohin die afri­ka­ni­schen Kol­le­gen sich ent­wi­ckel­ten, sei allein ihre Entscheidung.

Über­haupt ist der Begriff der Ent­wick­lung zen­tral für Haags Selbst­verst­stän­dis als Künst­ler: „Ich sehe meine Arbeit als Künst­ler und Thea­ter­mensch in der Ent­wick­lung hin zu dem – und jetzt wird es ganz pathe­tisch, aber man kommt nicht drum herum – wie wir mal gedacht waren. Also hin zum Mensch­li­chen. Hin zum direk­ten Kontakt“.

Das Thea­ter, so Haag, eigne sich des­halb so gut für diese Art der Begeg­nung, da hier der Kon­takt zwi­schen den Men­schen auf der Bühne unter­ein­an­der und denen im Zuschau­er­raum direkt statt­finde, ohne ein zwi­schen­ge­schal­te­tes Medium wie bei Film oder Fernsehen.

Diese unmit­tel­bare Begeg­nung führe dazu, dass man anfängt, sich damit zu beschäf­ti­gen, was den Ande­ren bewegt, was er denkt und warum er sich auf eine bestimmte Weise verhält.

Diese Aus­ein­an­der­set­zung ver­läuft dabei kei­nes­wegs unkri­tisch, das macht Haag sehr deut­lich. Ent­schei­dend aber sei doch, dass man sich frage, warum jemand so ist, wie er ist und warum er das tut, was er tut: „Ich frage mich dann, wo kommt das her. Durch die Ant­wor­ten, die ich dar­auf bekomme oder die Ideen, die ich sel­ber dazu habe, lerne ich den Ande­ren, aber auch mich sel­ber bes­ser kennen.“

Thea­ter mit direk­tem Kontakt

Das sol­che Begeg­nun­gen und Aus­ein­an­der­set­zun­gen weit über den per­sön­li­chen Mehr­wert, den man als Indi­vi­duum davon trägt, hin­aus gehen, wird deut­lich, als Haag auf den Kern sei­ner künst­le­ri­schen Arbeit und des Aus­tauschs mit afri­ka­ni­schen Künst­lern kommt: „Ich möchte mich durch meine Arbeit – und das, was ich orga­ni­siere – ent­wi­ckeln zu einem soli­da­ri­schen Men­schen, der den ande­ren Men­schen ver­steht. Ein Ver­ständ­nis ent­wi­ckeln für­ein­an­der. Das ist für mich das Ziel jeder künst­le­ri­schen Arbeit“.

Dass ist der Kern. Direk­ter Kon­takt. Unmit­tel­bare Begeg­nung. Solidarität.

„Jemand anders kann den Kern auch woan­ders fin­den, bei sich zu Hause oder in Köln-Nippes“.

Ger­hardt Haag hat ihn in der Hei­mat Tho­mas San­ka­ras gefun­den. Außer­dem hat er eine Menge neuer Freunde gewon­nen. Und eine neue Familie.

Ger­hardt Haag hat sei­nen Latte („Bitte extra heiß!“) aus­ge­trun­ken. Man hätte jetzt Lust, auf eine Spritz­tour. Mit Ger­hardt Haag und Dirk Niebel.

Nach Oua­g­adou­gou. Im Renault 5.

Wer Begeg­nung über die Gren­zen zweier Kon­ti­nente hin­weg wagt, kann was erle­ben! Beim afri­co­lo­gne­FES­TI­VAL vom 12. – 19. Juni 2013 im Thea­ter im Bau­turm in Köln oder den Récréa­trâ­les (vor­raus­sicht­lich Novem­ber 2014) in Oua­g­adou­gou. Am 31. Januar bis zum 2. Februar 2013 hat im Thea­ter im Bau­turm außer­dem das Stück “Von einem der aus­zog, die Revo­lu­tion zu ler­nen. Eine Hom­mage an Tho­mas San­kara” Première.

Laurenz Leky

Von : http://www.afrikaecho.de/2013/01/gesprach-theatermacher-gerhardt-haag-renault-5-ouagadougou/

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