Vor 34 Jahren wurde der burkinische Präsident erschossen. Erst jetzt beginnt die juristische Aufarbeitung
von Bruno Jaffré
Am 11. Oktober beginnt in Ouagadougou der Prozess gegen die mutmaßlichen Mörder des burkinischen Präsidenten Thomas Sankara und seiner Gefährten, die beim Staatsstreich vom 15. Oktober 1987 getötet wurden. Allerdings wird weder der Anführer des Mordkommandos, Hyacinthe Kafando, auf der Anklagebank sitzen – er ist weiterhin auf freiem Fuß – noch der prominenteste Verdächtige, Ex-Präsident Blaise Compaoré. Dieser wurde während des Volksaufstands im Oktober 20141 von französischen Truppen außer Landes gebracht und hat beim südlichen Nachbarn Côte d’Ivoire Zuflucht gefunden.
Vor Gericht stehen werden General Gilbert Diendéré, der die Operation gegen Sankara geleitet hatte, Jean-Pierre Palm, damals Stabschef der Gendarmerie, sowie elf weitere Angeklagte.
Thomas Sankara, der von 1983 bis 1987 an der Macht war, hat die eigenständige wirtschaftliche Entwicklung Burkina Fasos2 angekurbelt und die Korruption mit drastischen Mitteln bekämpft. Er unterstützte die Frauenbewegung und setzte sich für ein Recht auf Bildung ein. Seine sozialen und revolutionären Vorstellungen, vor allem seine Kritik an der Verschuldung und dem Diktat der internationalen Finanzinstitutionen beim Gipfel der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) im Juli 1987, machten Sankara zu einem Symbol der Emanzipation, das in Afrika noch immer große Strahlkraft besitzt.2
Seine Fähigkeit, die burkinische Bevölkerung zu mobilisieren, und sein internationaler Einfluss, insbesondere durch sein Eintreten für Palästina, erregten allerdings Unmut sowohl bei westlichen Regierungen als auch bei den „Freunden Frankreichs“ unter den afrikanischen Führern.
Lange Zeit hat die Justiz des Compaoré-Regimes (1987–2014) die Ermittlungen im Fall Sankara behindert. Daran konnten auch die von burkinischen Anwälten und Aktivisten im Ausland gestarteten Initiativen – wie die Kampagne „Gerechtigkeit für Thomas Sankara, Gerechtigkeit für Afrika“ – nichts ändern.
Die Sterbeurkunde Sankaras enthielt noch bis April 2008 den offensichtlich falschen Eintrag „natürliche Todesursache“. Doch im Februar 2015 ordnete die Übergangsregierung unter dem Druck der Öffentlichkeit die Wiederaufnahme des Falls an, womit sie den Untersuchungsrichter François Yaméogo betraute, der sich als engagiert und unabhängig erwies.3
Der erste Schritt bestand darin, den Ablauf der Ereignisse vom 15. Oktober 1987 zu rekonstruieren. Dann konnte die Identität der Opfer, die damals in Ouagadougou verscharrt wurden, verifiziert werden. Zudem kam ans Licht, dass zu den Tätern auch Mitglieder der Leibgarde Compaorés gehörten, der damals als Justizminister amtierte. Damit war dessen direkte Verantwortung für den Tod Sankaras bewiesen.
Das Mordkommando war vom Anwesen Compaorés aufgebrochen, ein Teil fuhr sogar in einem seiner Autos. Die Männer stürmten einen Versammlungssaal der Regionalorganisation Conseil de l’Entente,4 wo Sankara mit sechs Mitgliedern seines Sekretariats zusammensaß, und schossen ohne Vorwarnung. Die Untersuchung bestätigte darüber hinaus, dass Compaorés Stellvertreter Diendéré die zu eliminierenden Personen bestimmt hatte und Sankara-treue Offiziere in Gewahrsam nehmen ließ.
Die „interne“ Seite des Falls ist inzwischen abgeschlossen. Ungeklärt bleiben mögliche internationale Verbindungen, weil die potenziell in die Tat verwickelten Staaten sich weigerten, mit Richter Yaméogo zu kooperieren. Im Dunkeln bleibt damit die Rolle von Côte d’Ivoire, damals unter der Führung von Präsident Félix Houphouët-Boigny, wie auch die der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich, also der Regierung von Premierminister Jacques Chirac, die zum Zeitpunkt der Tat in „Kohabitation“ mit Präsident François Mitterand an der Macht war.
Auch andere Länder könnten ihre Hände im Spiel gehabt haben. 1987 unterstützte Paris den Tschad in seinem Grenzkonflikt mit Libyen, während Muammar al-Gaddafi ein alter Verbündeter Sankaras war. Zur selben Zeit organisierte in Liberia Charles Taylor – unterstützt von Tripolis, Abidjan und Washington – einen bewaffneten Aufstand, der sein Land wie auch das benachbarte Sierra Leone über Jahre destabilisieren sollte.
Der Staatsstreich gegen Sankara – der sich sehr um regionale Stabilität bemühte – ist bis heute von sehr gut gehüteten Geheimnissen verdunkelt. Bei seinem Besuch in Burkina Faso im November 2017 sagte der französische Präsident Emmanuel Macron zu, geheime Dokumente freizugeben, wie es Richter Yaméogo gefordert hatte. Doch Macron hielt nicht Wort. Die ersten Akten, die in Ouagadougou eintrafen, enthielten nur unwichtige Schriftstücke.
„Der Inhalt umfasst nicht nur diplomatische Kabel, sondern vor allem Analysen, geheimdienstliche Berichte und lokale Dokumente“, sagte der französische Botschafter in Burkina Faso, Luc Hallade. Bei der dritten Sendung vom 17. April 2021 handelte es sich nach Angaben Hallades um „Archive aus dem Innenministerium“.5 Also wurde kein einziges Schriftstück aus den Büros von Mitterand oder Chirac freigegeben.
Erst als die burkinische Justiz aufdeckte, dass sich einen Tag nach dem Staatsstreich französische Agenten in Ouagadougou aufhielten, begannen viele zu reden. „Wir haben die Abhörprotokolle von Blaise Compaoré und Jean-Pierre Palm vernichtet“, bezeugte anonym ein Mitglied des burkinischen Geheimdienstes. „Palm selbst suchte uns in Begleitung von Franzosen auf, um Beweise zu finden, dass er abgehört wurde.“6 Ein anderer Geheimdienstler erwähnte die Anwesenheit des französischen Söldners Paul Barril. Das ist ein erstes Indiz für die Beteiligung Frankreichs an diesem Verbrechen – und der zweite wichtige Ertrag der burkinischen Ermittlungen.
Bisher gab es dafür kaum Belege. Paris hatte allerdings sehr feindselig auf einige Initiativen Sankaras reagiert. Zum Beispiel unterstützte dieser die Aufnahme Neukaledoniens in die Liste der zu entkolonialisierenden Gebiete der Vereinten Nationen. In Reaktion darauf wollte Chirac die französische Entwicklungshilfe für Burkina Faso kürzen.7 Er soll sogar direkt gedroht haben: „Sagen sie ihrem ‚kleinen‘ Capitaine, er soll seine Innereien sortieren, in sechs Monaten haben wir ihn fertiggemacht.“8
Folgen hatte auch ein heftiger Wortwechsel mit Präsident Mitterand bei einem offiziellen Abendessen am 17. November 1986 in Ouagadougou. Dabei verurteilte Sankara die französischen Waffenlieferungen in Kriegsgebiete und kritisierte, dass Paris den Präsidenten des südafrikanischen Apartheidregimes, Pieter Willem Botha, eingeladen hatte.
Daraufhin organisierte Mitterrands Afrika-Berater Guy Penne eine Kampagne mit dem Ziel, die burkinische Revolution zu verunglimpfen. Er vermittelte einen Kontakt zwischen dem Figaro-Starreporter François Hauter und Admiral Pierre Lacoste, vormals Direktor des französischen Auslandsdienstes (DGSE). Der DSGE versorgte den Journalisten mit Dokumenten, die dieser 1986 in einer Artikelserie über angebliche Gräueltaten Sankaras verwendete. 30 Jahre später bekannte Hauter: „Ich habe das schreckliche Gefühl, manipuliert worden zu sein.“9
Dem US-Historiker Brian Peterson zufolge, der die Archive des State Departments einsehen konnte, haben damals Paris nahestehende afrikanische Regime versucht, Burkina Faso zu destabilisieren. Der sogenannte Weihnachtskrieg zwischen Mali und Burkina Faso vom Dezember 1986 wurde durch falsche Anschuldigungen gegen Ouagadougou ausgelöst.
Viele hatten ein Interesse am Tod des Revolutionärs
Angeblich hatten bewaffnete burkinische Einheiten die Grenze nach Mali überschritten, wofür es keinerlei Beweise gab. Dennoch hielten Mali, aber auch Côte d’Ivoire und Togo an ihren Unterstellungen fest und ignorierten Sankaras Bemühungen, seine guten Absichten zu demonstrieren. Laut Peterson urteilte Leonardo Neher, der damalige US-Botschafter in Ouagadougou: „Es ist schwer zu glauben, dass die malischen Behörden nicht wissen, dass die kursierenden Gerüchte falsch sind.“ Auch ein CIA-Kabel bestätigt den Manipulationsverdacht: „Der Krieg entstand aus der Hoffnung in Bamako, der Konflikt würde zu einem Staatsstreich in Burkina führen.“10
Die burkinische Justiz hat einen weiteren zentralen Punkt des Mordfalls Sankara geklärt: Die Vermutung, am Tatort seien Liberianer aus dem Umfeld von Charles Taylor anwesend gewesen, hat sich nicht bestätigt.11 Was wir wissen, ist, dass Taylor selbst im Januar 1987 nach Burkina Faso reiste und in Ouagadougou um Unterstützung für seine Machtübernahme in Liberia warb. Doch Sankara habe ihm laut Aussage mehrerer Zeugen eine Absage erteilt.
Sankaras Rivale Compaoré dagegen soll, wie der liberianische Ex-Söldner Prince Johnson erzählt hat, Charles Taylor seinen Beistand angeboten haben, und zwar als Gegenleistung für dessen Hilfe bei Compaorés Staatsstreich vom 15. Oktober.12 Doch ob das stimmt, bleibt fraglich, da die Behörden in Sierra Leone und Liberia die Zusammenarbeit verweigern. Und Côte d’Ivoire lehnt es bis heute ab, Blaise Compaoré auszuliefern.
Unterstützt und finanziert wurden die Gegner Sankaras damals auch vom ivorischen Präsident Félix Houphouët-Boigny, der eine wichtige Stütze französischer Interessen in Afrika war.13 Und Libyens Staatschef al-Gaddafi lag mit Sankara über Kreuz, weil der ihm im Grenzkonflikt mit Tschad nicht zur Seite sprang und die Stationierung einer libyschen „Islamischen Legion“ in Burkina Faso abgelehnt hatte.
Diese Rivalitäten sind durch zahlreiche Details aus offiziellen US-Quellen belegt, die Peterson zitiert. Der blutige Bürgerkrieg in Liberia vereinte den Ivorer Houphouët-Boigny, den Burkiner Compaoré und den Libyer Gaddafi zu einer Allianz, die Taylor unterstützte. Und nach Ansicht des „Françafrique“-Experten François-Xavier Verschave hatten die drei Männer ihren Zusammenschluss mit der Ermordung Sankaras besiegelt.14
Peterson sieht keine Beweise für eine direkte Beteiligung der USA an dem Staatsstreich vom 15. Oktober, obwohl mehrere Aussagen liberianischer Akteure dies nahelegen.15 Allerdings weist er darauf hin, dass viele burkinische Offiziere am US-Ausbildungsprogramm Imet (International Military Education and Training) teilgenommen haben.
Jedenfalls waren die Beziehungen zwischen Washington und Ouagadougou angespannt, nachdem Burkina Faso im Juli 1987 die Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) abgebrochen hatte. Und im April 1978 soll Herman Cohen, der Botschafter der Vereinigten Staaten in Senegal und Gambia, den ivorischen Präsidenten Houphouët-Boigny gedrängt haben, „den Einfluss Sankaras in der Region zu beseitigen“.16
Die Hypothese von einer internationalen Verschwörung hat nicht viele Anhänger, aber sie ist damit keinesfalls erledigt. Es bleibt abzuwarten, ob die Ermittlungen in Burkina Faso weiteres Licht in die Affäre bringen. Und ob die offiziellen Stellen der verdächtigten Länder künftig ehrlich kooperieren und ihre Archive öffnen. Es ist noch ein langer Weg, bis die Eliminierung von Thomas Sankara, der noch heute viele junge Afrikanerinnen und Afrikaner inspiriert, restlos aufgeklärt ist.
1 Siehe David Commeillas, „Ausfegen in Burkina Faso“, LMd, Mai 2015.
2 Die ehemals französische Kolonie hieß seit ihrer Unabhängigkeit 1960 zunächst Obervolta und wurde erst im August 1983, zum ersten Jahrestag von Sankaras Revolution, in Burkina Faso umbenannt.
3 Siehe Amber Murrey, „Certain Amount of Madness: The Life, Politics and Legacies of Thomas Sankara“, London (Pluto Press) 2018.
4 Mitgliedstaaten der Organisation sind Côte d’Ivoire, Burkina Faso, Niger, Benin und Togo.
5 „Affaire Thomas Sankara: la France ‚a tenu parole‘, en déclassifiant les documents couverts par le secret national“, lefaso.net, 18. April 2021.
6 Hervé d’Afrik, „Assassinat de Thomas Sankara: les faits se précisent“, Courrier Confidentiel, 15. Februar 2021.
7 Le Canard enchainé, 21. Oktober 1987.
8 So der inzwischen verstorbene Journalist Elio Comarin in: L’Humanité, 11. April 2021.
9 Pierre Firtion und Léa-Lisa Westerhoff, „Le rôle de la France: soupçons et démentis“, 4. Teil der Reihe „Qui a fait tuer Sankara?“, Radio France internationale (RFI), 2017.
10 Brian Peterson, „Thomas Sankara: A Revolutionary in Cold War Africa“, Bloomington (Indiana University Press) 2021.
11 Siehe Silvestro Montanaro, „Ombre Africane“, Dokumentarfilm, RAI3, Rom, 15. Juli 2009.
12 Aussage vor Truth and Reconciliation Commission of Liberia (TRC), 29. August 2008. Zitiert in: „Derrière les révélations de Prince Johnson, les soutiens burkinabè et ivoirien à la rébellion du Liberia“, 28. Oktober 2008.
13 Siehe Lona Charles Ouattara, „Les dessous de la révolution voltaïque. La mélancolie du pouvoir“, Paris (L’Harmattan) 2017.
14 François Xavier Verschave, „Noir Silence. Qui arrêtera la Françafrique?“, Paris (Les Arènes) 2000; dieselbe Ansicht vertrat der damalige burkinische Botschafter in Libyen (wie Frankreichs Botschafter in Tripolis am 9. November 1987 an sein Außenministerium zu berichten wusste).
15 So in „Ombre Africane“, siehe Anmerkung 11.
16 „Quand Herman J. Cohen voulait la peau de Thomas Sankara“, Africa Intelligence, 17. Juni 2015.
Aus dem Französischen von Jakob Farah
Bruno Jaffré ist Autor von „L’insurrection inachevée. Burkina 2014“, Paris (Syllepse) 2019.